Evidenz basierte Medizin
Mit Hilfe der Evidenz basierten Medizin (EbM, v. engl. evidence "Beweis, Nachweis, Hinweis“; die korrekte Übersetzung wäre "Beweis gestützte Heilkunde") sollen Ärzte und Therapeuten in die Lage versetzt werden, die augenblicklich jeweils beste Therapie anbieten zu können.
Die Arbeitsgrundlage in der EbM besteht in einer Filterung und Bewertung der veröffentlichten medizinischen Literatur. Somit sollen Studienergebnisse wissenschaftlich abgesichert werden und unseriöse und im Studienaufbau unbrauchbare Studien herausgefiltert werden. Ziel ist die Entwicklung von Empfehlungen und Leitlinien, die die tatsächliche Wirksamkeit von Therapien und Maßnahmen beschreiben.
Damit wird eine ärztliche Haltung beschrieben, die die eigene klinische Erfahrung mit den besten Behandlungsergebnissen aus der medizinischen Forschung ergänzt. Bisherige, allgemein anerkannte Untersuchung- und Behandlungsverfahren werden neu bewertet und gegebenenfalls durch solche ersetzt, die wirksamer, genauer und sicherer sind.
Geschichte der EbM:
Im Jahre 1753 veröffentlichte James Lind In Großbritannien die Ergebnisse seines Versuchs, den Skorbut mit Orangen und Zitronen zu behandeln.
Im Jahre 1848 setzt sich der in Wien tätige, ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis (1818-1865) für die Einführung der "systematischen klinischen Beobachtung" in die medizinische Forschung ein.
Im Jahre 1972 sensibilisiert Professor Archie Cochrane, ein britischer Epidemiologe, die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft mit seinem Buch "Effectiveness and Efficiency: Random Reflections on Health Services" für die "Evidence-based Medicine".
Seine weiteren Arbeiten führten zu einer zunehmenden Akzeptanz von klinischer Epidemiologie und kontrollierten Studien. Nach ihm wurde die Cochrane Collaboration benannt, ein internationales Netzwerk zur Wirksamkeitsbewertung in der Medizin.
}Die Bibilothek der Cochrane Collaboration (die so genannte Cochrane-Library) versammelt systematische Übersichtsarbeiten auf Englisch seit 1992. Darüber hinaus enthält sie ein Register mit Zitaten klinischer Studien (ca. 480.000 Einträge), das über die Bestände herkömmlicher Datenbanken (Medline, EMBASE) hinausgeht. Durch ihre elektronische Verbreitung hat sie die EbM zu einer allgemein anerkannten Grundlage alltäglicher medizinischer Arbeit gemacht.
Die Übersetzung der Arbeiten in weitere Sprachen (Italienisch, Spanisch und Chinesisch) erfolgt kontinuierlich. Die Cochrane Collaboration will auch die Patienten umfassend informieren. Daher wird zu jeder systematischen Übersichtsarbeit auch eine für Laien verständliche Kurzzusammenfassung (plain language summary) erstellt.
Nutzen der EbM:
Das medizinische Wissen verdoppelt sich etwa alle fünf Jahre. Daher ist es dem einzelnen Arzt nicht mehr möglich, alle wichtigen Informationen selbst nur über sein eigenes Fachgebiet zu erhalten. Deshalb haben es sich die Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften zur Aufgabe gemacht, für ihre Ärzte die jeweils bedeutenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zu suchen, auf ihre Wirksamkeit zu prüfen und in Behandlungsempfehlungen in Form von so genannten Leitlinien öffentlich zugänglich zur Verfügung zu stellen
- Evidenz basierte Medizin nutzt somit dem Arzt, weil er auf dem neuesten Stand der medizinischen Behandlungsmethoden ist,
- sie nutzt dem Patienten, weil er durch diesen Wissensstand bestmöglich behandelt wird und
- sie nutzt der Gesellschaft, weil unnötige und teure Behandlungen, die zu keinem messbaren Erfolg führen, vermieden werden.
Säulen der EbM:
EbM steht demnach auf drei Säulen:
- der individuellen klinischen Erfahrung des Arztes
- den Werten und Wünschen des Patienten;
- dem aktuellen Stand der wissenschaftlich fundierten klinischen Medizin auf der Grundlage klinischer Studien, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen (= externe Evidenz).
Kriterien der EbM:
Eine Einteilung nach EbM-Kriterien von Studien/Veröffentlichungen ermöglicht Aussagen über die wissenschaftliche Evaluierung und über den Evidenzgrad. Nach ÄZQ (Ärztliche Zentralstelle für Qualitätssicherung) gelten nachfolgende Level im Sinne der EbM:
- Es gibt ausreichende Nachweise für die Wirksamkeit aus systematischen Überblicksarbeiten (Meta-Analysen) über zahlreiche randomisiert*-kontrollierte Studien.
- Es gibt Nachweise für die Wirksamkeit aus zumindest einer randomisierten*, kontrollierten Studie.
- Es gibt Nachweise für die Wirksamkeit aus methodisch gut konzipierten Studien, ohne randomisierte* Gruppenzuweisung.
- Es gibt Nachweise für die Wirksamkeit aus klinischen Berichten.
- Stellt die Meinung respektierter Experten dar, basierend auf klinischen Erfahrungswerten bzw. Berichten von Experten-Kommittees.
* randomisiert: unter Randomisierung (engl. to randomize von random, “zufällig“) versteht man die Anwendung eines Zufallsergebnisse liefernden Verfahrens. Bei Studien bezieht sich die Randomisierung auf die Auswahl der Teilnehmer z. B. bei der Testung von Arzneimitteln in eine Verumgruppe (erhält den zu testenden Wirkstoff) und eine Placebogruppe (enthält nur einen Scheinwirkstoff). Durch eine Zufallsauswahl sollen andere Einflüsse auf das Studienergebnis ausgeschlossen werden.
Kritikpunkte an der EbM:
- Eine gute Beweisführung ist in vielen Bereichen der Medizin nicht durchführbar oder zu umständlich. Fast alle ärztlichen Handlungen, die allgemein akzeptiert sind, sind nicht Evidenz basiert und werden es nie sein.
- Studien mit einer großen Anzahl Teilnehmer sind nicht ohne weiteres auf einen speziellen Einzelfall anzuwenden. “Große Zahlen liefern ein statistisch gesehen genaues Ergebnis, von dem man nicht weiß, auf wen es zutrifft. Kleine Zahlen liefern ein statistisch gesehen unbrauchbares Ergebnis, von dem man aber besser weiß, auf wen es zutrifft. Schwer zu entscheiden, welche dieser Arten von Unwissen die nutzlosere ist.“ (Beck-Bornholdt, Dubben 2003).
- EbM wird aus Karriere- und finanziellen Gründen stark vorangetrieben.
- Die Realität der EbM basiert alleine auf statistischen Daten. Erfahrungsmedizin, soziale Auswirkungen, individuelle Entscheidungen und Emotionen werden nicht anerkannt.
Literatur/Informationen:
Die Verbreitung der EbM wird im deutschsprachigen Bereich maßgeblich durch die Institutionalisierung des Deutschen Netzwerks Evidenz basierte Medizin (DNEbMe.V.) befördert. Ziele dieser Fachgesellschaft sind die Weiterentwicklung und Verbreitung von Theorie und Praxis der Evidenz basierten Medizin.
- Deutsches Netzwerk Evidenz basierte Medizin e.V.
c/o Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin
Wegelystraße 3
Herbert-Lewin-Platz
10623 Berlin - Kunz, R. u.a.: Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2000